Braunkohle
Braunkohle
Flüchtlinge
Flüchtlinge
Kolumbien
Kolumbien
Lebendige Kirche
Lebendige Kirche

Gibt es Arbeit für alle – oder nicht?

Globale Märkte beeinflussen die Arbeitsmarktentwicklung vor Ort

15_Strukturwandel (c) Garnet Manecke
15_Strukturwandel
Datum:
Mi. 8. Apr. 2015
Von:
Garnet Manecke
Die Arbeitswelt verändert sich. Befristete Arbeitsverhältnisse, zunehmende Anforderungen an Qualifikation und Flexibilität sind heute die Regel.

Was das für den Arbeitsmarkt bedeutet, wer Gewinner und wer Verlierer ist und welchen Herausforderungen sich Kirche, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Staat dabei gegenüber sehen, wurde bei den 1. Mönchengladbacher Arbeitsgesprächen diskutiert.

So wie es Hans-Wilhelm Reiners, Oberbürgermeister von Mönchengladbach, aus seiner Kindheit und Jugend kennt, läuft es heute in vielen Familien nicht mehr: Der Vater geht arbeiten und von seinem Gehalt wird die gesamte Familie ernährt. „Ich habe den Eindruck, dass es heute gar nicht mehr möglich ist, von einem Einkommen eine Familie mit Kindern zu finanzieren“, sagt er zu Beginn der Diskussionsrunde. „Dabei reden wir nicht von hohen Konsumansprüchen, sondern vom alltäglichen Leben.“ In Mönchengladbach kommt hinzu, dass viele Familien gar kein eigenes Einkommen haben. Rund 37200 Menschen werden vom Jobcenter betreut.

Rund 95 Millionen Euro zahlt die Stadt im Jahr für Leistungen zum Lebensunterhalt, dazu kommen 96 Millionen für Wohnleistungen wie Miete, 24 Millionen Euro für Bildungsmaßnahmen und 22 Millionen kostet die Verwaltung, die die Betreuung der Empfänger von Sozialleistungen erfordert. „Wir haben hier eine hohe Zahl an Menschen, die eine geringe Qualifikation haben“, sagt Bernd Meisterling-Riecks vom Jobcenter Mönchengladbach. 70 Prozent der Arbeitslosen seien ohne jede Berufsausbildung. In den 1970-er Jahren hätte diese Personengruppe in den Fabriken Arbeit gefunden. Durch die Automatisierung der Produktionen und die Verlagerung in kostengünstigere Länder sind diese Jobs weggefallen.

Dass die Folgen des Zusammenbruchs ganzer Branchen über mehrere Generationen spürbar sind, zeigt das Beispiel der Textilindustrie Gladbachs eindrucksvoll. Mit dem Zusammenbruch der Bekleidungs- und Tuchindustrie wurde aus einer wirtschaftlich starken Region eine arme Stadt. „Menschen, die langzeitarbeitslos sind, verlieren an Selbstbewusstsein“, sagt Meisterling-Riecks. Die Folge: Sie nehmen immer weniger am gesellschaftlichen Leben teil, bekommen oft psychische Probleme und sind schließlich kaum noch arbeitsfähig. „Das ist ein psychosoziales Problem“, sagt der Jobcenter-Vertreter.


Gibt es Wege, alle Menschen für ihre Arbeit gerecht zu entlohnen?

Davon weiß auch Hermann-Josef Kronen, Geschäftsführer des Volksvereins Mönchengladbach, zu berichten. Der 1985  wieder gegründete Verein bietet Langzeitarbeitslosen eine neue Perspektive durch verschiedene Bildungsmaßnahmen. Kronen weist auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Gladbach hin. Hier entsteht die Arbeitslosengeneration von morgen. Aber auch Menschen mit einer Ausbildung sind von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht. Nach einer Analyse von Forschern des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung drohe besonders Beschäftigten im Sozialbereich Altersarmut, berichtet Kronen. Auch die fortschreitende Digitalisierung bedrohe viele Arbeitsplätze. Kronen verglich die Entwicklung mit der Industrialisierung, die vor allem in der Agrarwirtschaft Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt habe.

Wie soll man all diese Menschen beschäftigen? Eine Lösung scheint da die Logistikbranche zu sein. Das Gladbacher Gewerbegebiet Regiopark boomt, weil sich viele Logistiker hier ansiedeln. Wer auf die Namen an den Hallen schaut, findet nicht nur die reinen Logistiker, sondern vor allem Größen aus der Bekleidungsindustrie wie Zalando, Primark oder Esprit. Die brächten viele Arbeitsplätze gerade für Geringqualifizierte in die Stadt. Darauf weist auch der Vertreter der Wirtschaftsförderung, David Bongartz, hin. Doch so mancher der Namen ist durch Berichte über umstrittene Arbeitsbedingungen belastet.

Hinter die Fassade eines Unternehmens wie Zalando zu blicken, wünscht sich Rainer Ostwald. Der Betriebsseelsorger hatte zu den 1. Mönchengladbacher Arbeitsgesprächen in Haus der Regionen eingeladen. Rund 30 Teilnehmer waren der Einladung gefolgt und beteiligten sich auch rege an der Diskussion. Nicht alle hielten das System für schuldig. Es gebe Wege, Menschen auch in traditionell niedrig-entlohnten Bereichen nach den Sätzen des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst zu entlohnen – ohne in der Stadt der teuerste Anbieter zu sein. „Wir haben es geschafft, 180 Frauen aus Niedriglohngruppen in den TVÖP-Tarif zu heben“, sagte Helmut Wallrafen-Dreisow, Chef der städtischen Sozial-Holding. Er kritisierte kirchliche Träger, die mit den Löhnen sogar herunter gegangen seien. Dem stellte sich Regionaldekan Ulrich Clancett entschieden entgegen: „Wir zahlen nach Tarif.“

Der kleine Disput zeigt, wie schwierig es ist, den richtigen Weg aus dem Dilemma zu finden. Je nach Interessenlage wird die Situation auf dem Arbeitsmarkt unterschiedlich gesehen und gewichtet. „Eine Arbeitsmarktkonferenz, die zwei oder drei Mal im Jahr stattfindet, wäre gut“, schlägt Kronen vor. Um tragfähige Lösungen für das Dilemma zwischen Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und Fachkräftemangel auf der anderen zu finden, sind alle gefragt. Spätestens 2016 wird die Diskussion fortgesetzt: bei der zweiten Auflage der Mönchengladbacher Arbeitsgespräche.