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So geht Deutschland

Integration umfasst mehr als nur das Studium der Sprache

So geht Deutschland Nachricht (c) Ruth Schlotterhose
So geht Deutschland Nachricht
Datum:
Di. 4. Dez. 2018
Von:
Ruth Schlotterhose

Gesprächsfetzen schwirren durch den voll besetzten Raum, hin und wieder klingt Lachen auf. Geschirr klappert, der Duft von Kaffee und frischen Brötchen umschmeichelt die Nasen der jungen Leute, die hier frühstücken.

Ein ganz normaler Morgen in der DPSG-Jugendstätte Rursee in Nideggen-Schmidt? Nicht für die Gruppe am letzten Tisch. Die jugendlichen Geflüchteten – sieben Jungen und ein Mädchen – sind zum Teil reichlich nervös, weil sie heute an einem Fahrradkurs teilnehmen sollen. Das will natürlich keiner zugeben, und so überbieten sich die Jungen in gegenseitigen Frozzeleien. Hakim* ist besonders aufgedreht: Er wird heute 20 Jahre alt, und in ein paar Tagen steht ihm die praktische Führerscheinprüfung bevor. Stolz und ein bisschen schadenfroh erzählt er, dass er die Theorie mit null Fehlerpunkten bestanden hat – im Gegensatz zu seiner deutschen Freundin, die erst einmal durchgefallen ist. In seinem Heimatland Syrien gibt es keine Prüfung, die Fahr-Erlaubnis wird einfach gekauft. Hier in Schmidt nehmen die jungen Leute an einem Projekt teil, mit dem sich der DPSG-Diözesanverband Aachen um den Teresa-Bock-Preis 2017 beworben hatte: „Statt Flucht – ankommen in der Natur“ lautet sein Name.


Im Wassser lauern Gefahren – oder etwa nicht?

„Menschen aus anderen Nationen erleben in Deutschland größtenteils auch eine andere Umwelt – und einen anderen Naturraum“, erklärt Projektkoordinatorin Aggi Majewsky. Und wartet gleich mit einem anschaulichen Beispiel auf: Vorletzten Sommer luden die deutschen Pfadfinder ihre damaligen Gäste aus Südafrika zum Baden im Rursee ein. Die afrikanischen Scouts wollten aber zunächst nicht ins Wasser kommen. Wie sich schnell herausstellte, war der Grund folgender: Zu Hause hatte man ihnen von klein auf eingeimpft, dass in Süßwasserseen Krokodile lauern …

Aufgrund solcher Fakten soll insbesondere Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund ein Gefühl für die Unterschiede der Natur Deutschlands in Bezug zu ihren Heimatländern vermittelt werden. Die Gruppe, die sich aktuell in der Jugendstätte Rursee aufhält, besteht aus Jugendlichen, die aus Aserbaidschan, Syrien und Afghanistan kommen, im Durchschnitt sind sie 20 Jahre alt. Ehe die jungen Leute aber per Rad die Eifeler Wälder durchstreifen dürfen, wird erst einmal Theorie gepaukt. Was macht ein Rad sicher? Auf Licht, Bremse, Klingel und Reflektoren kommen die Teilnehmer rasch. Wie lauten die wichtigsten Verkehrszeichen? Hakims* Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen. Für Erheiterung sorgt indes die Anmerkung von Mehmet*: „Einbahnstraßen gibt es in Düren nicht, nur in Köln.“ Wieder ein eindeutiges Indiz dafür, wie unterschiedlich Wahrnehmungen sein können. Dass Rot immer irgendeine Form von Verbot ausdrückt, wissen alle. Immerhin sind die meisten von ihnen seit fast drei Jahren in Deutschland. Man erkennt es auch daran, wie gut sie die deutsche Sprache beherrschen. Hin und wieder fehlt eine Vokabel, aber die Umschreibung „Stuhl“ für das fehlende Wort „Sattel“ erklärt einleuchtend, was gemeint ist.


Das Projekt wird ständig reflektiert und fortentwickelt

Seit 2016 läuft das Projekt „Statt Flucht – ankommen in der Natur“. Bisher gab es über 600 Teilnehmer in mehr als 30 Seminaren, erzählt Aggi Majewsky nicht ohne Stolz. Die Arbeit teilt sie sich mit einem zehnköpfigen Team, das das Projekt ständig reflektiert und weiterentwickelt. Gefördert werden die Seminare aus Mitteln des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes NRW. Deshalb sind sie für alle Teilnehmer, auch die begleitenden Betreuer, kostenfrei. Der Förderantrag für 2019 läuft bereits.

Dieses Jahr findet sich unter anderem Fahrradfahren auf dem Programm. Eine Flotte Mountainbikes steht in der Garage des Pfadfinderhauses bereit. Jeder aus der Gruppe sucht sich ein passendes Gefährt aus; Fahrrad fahren könnten sie alle, haben die Jugendlichen glaubhaft versichert. Jeder setzt sich brav einen Helm auf und alle radeln
die kurze Strecke Richtung Übungsplatz. Und dann: Wehe, wenn sie losgelassen, möchte man sagen. Da wird freihändig gefahren, auf nur einem Reifen balanciert, über ein wippendes Brett gesaust; da hüpft der eine über ein Hindernis und der andere startet ein waghalsiges Überholmanöver. In ihrem Imponiergehabe unterscheiden sich junge Geflüchtete kein bisschen von ihren deutschen Artgenossen. Nur das Mädchen dreht still seine Runden. Als sich alle ausgetobt haben, kann die Gruppe endlich zur geplanten Rundfahrt aufbrechen.
Dass solche Situationen nicht eskalieren, ist der Tatsache geschuldet, dass bei der Zusammenstellung der Gruppen auf die regionale und soziale Herkunft der Teilnehmer geachtet und Rücksicht auf ihren je speziellen Migrationshintergrund genommen wird. Außerdem stehen den jungen Leuten kompetente Ansprechpartner wie diplomierte Pädagogen, zertifizierte Naturführer und systemische Berater zur Seite. Mit ihnen gemeinsam lässt sich in der Regel auf jede Frage eine Antwort finden. So auch darauf, was die seltsamen Lichterprozessionen namens Martinszüge zu bedeuten haben.
    *Name geändert

So geht Deutschland (c) Ruth Schlotterhose