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Tatorte - Aus der Reihe Wiedervorlage: Aufarbeitung (Macht)Missbrauch:Die Wahrheit tut weh – und sie muss es auch

Die deutsche Kirche wird auf absehbare Zeit nicht zur Ruhe kommen. Denn die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt steht erst am Anfang, sagt Prof. Dr. Hans-Joachim Sander bei einer Aachener Online-Tagung

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Datum:
25. Mai 2021
Von:
Thomas Hohenschue

Tatorte - Aus der Reihe Wiedervorlage: Aufarbeitung (Macht)Missbrauch

Die deutsche Kirche wird auf absehbare Zeit nicht zur Ruhe kommen. Denn die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt steht erst am Anfang, sagt Prof. Dr. Hans-Joachim Sander bei einer Aachener Online-Tagung

Die deutsche Kirche befindet sich 2021 in einer schlechten Verfassung. Eine Serie von Enthüllungen über die unfassbare Vertuschung von sexualisierten Gewalttaten im Raum der Kirche setzt Verantwortliche in vielen Diözesen unter Druck. Geht man dann noch so desolat damit um, wie es im Erzbistum Köln zu beobachten ist, vertieft sich die Vertrauenskrise. Selbst tiefgläubige, engagierte Menschen aus dem innersten Kern der Kirche wenden sich von dieser ab.

Diese Bestandsaufnahme allein verstört. Aber das ist noch nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen wird. Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche steht in Deutschland noch am Anfang, betonte Prof. Dr. Hans-Joachim Sander bei einer Aachener Online-Tagung am 20. Mai. Sehr viele Archive, Akten, Giftschränke seien noch nicht geöffnet. Sehr viele Tatorte seien noch nicht in den Blick genommen. Sehr viele Opfer seien noch nicht gehört worden. Die deutsche Kirche müsse in diesen Abgrund schauen, sonst drohe sie, dort hineinzustürzen, wählte der Professor für Dogmatik an der Fakultät für katholische Theologie der Universität Salzburg ein plastisches Bild. Die Wahrheit müsse ans Licht, sie täte weh – und das müsse sie auch. Das sei für viele Menschen eine Voraussetzung, der Kirche zu vertrauen. Jede Enthüllung vertiefe zunächst die Entfremdung, aber nur eine vollständige Offenlegung stelle Glaubwürdigkeit her.

Hans-Joachim Sander vollzog an diesem Aachener Abend die schmerzliche Übung, die der Institution, den Gläubigen und allen voran auch den Betroffenen sexualisierter Gewalt ins Haus steht. Er schaute genauer hin. Er schaute auf die Tatorte, in denen Missbrauch geschehen ist und geschieht. Es sind dies zum Beispiel das Pfarrhaus, das Beichtzimmer, die Sakristei, gar der Altarraum. Und es sind dies kirchliche Schulen, Internate, Klöster, Kinderheime, Zeltlager und viele andere Orte.

Der Salzburger Professor legte Mechanismen offen, die beim Missbrauch und dessen Vertuschung greifen. Die Kirche habe aus einem erhöhten Selbstbild und Sendungsbewusstsein heraus die Opfer zum Schweigen gebracht, in einem Teufelskreislauf von Schuld und Scham die Hoheit über die Bewertung des Geschehenen bewahrt. Selbst in dem Moment, wo sich heute Bischöfe vollmundig zur Schuld der Institution bekennen, behauptet die Institution ihre Deutungsmacht.

Dieses Muster müsse durchbrochen werden, betonte Hans-Joachim Sander. Es gelte, den Schmerz und die Scham der Opfer anzusehen, anzuhören und auszuhalten. Die Schulderzählung der Kirche trete vor dem Leid der Betroffenen zurück. Im angeregten Austausch des Abends, unter anderem mit Fachleuten und einer Betroffenen, schärfte der Professor den Blick: Keinesfalls geht es dabei darum, dass die Opfer der Kirche und den Tätern vergeben müssen. Niemand dürfe das von ihnen verlangen.

Es geht vielmehr um Gerechtigkeit, um Wahrhaftigkeit, um Ehrlichkeit. Die Debatte darüber, ob die Kirche überhaupt in der Lage ist, eine solche voraussetzungs- und kompromisslose Aufarbeitung zu leisten, wird immer lauter. Sander selbst sieht gute Argumente bei denen, die eine aktive Rolle des Staates fordern. Die Bildung von Wahrheitskommissionen könnte ein solcher Schritt sein. Die Herausforderung ist historisch, weil die Aufarbeitung wie skizziert erst am Anfang steht.

Für das, was Kirche, Gläubigen und Betroffenen bevorsteht, gebe es gute Erzählungen in der Bibel, plädierte Hans-Joachim Sander für eine andere Form von Spiritualität und Sprache. Auch die Liturgie müsse sich von übergriffigen Mustern lösen, welche die Missbrauchserfahrung von Überordnung und Ohnmacht wieder und wieder fortschreiben. Insofern ist die Rede von Perspektivwechsel und Kulturwandel treffend, muss aber umfassend verstanden und angepackt werden.

Zu den zahlreichen wertvollen Anregungen des Abends gehörte der Ausblick, dass die Institution und mit ihr die Gemeinschaft der Gläubigen lerne müsse, sich selbst zu relativieren. Erst die Erzählung, dass die Heiligkeit der Kirche über dem Leid der Opfer stehe, habe den massenhaften Missbrauch und seine systematische, gezielte Vertuschung möglich gemacht. Und gemeinsam blicken alle, die etwas geahnt, gewusst, verschwiegen haben, in einen Abgrund der Verantwortungslosigkeit.

Info

Die Veranstaltung mit Prof. Hans-Joachim Sander gehörte zu einer viel beachteten Veranstaltungsreihe, die sich mit den systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche beschäftigt. Mehr Informationen und nächste Termine unter www.wiedervorlage-aufarbeitung.de.

Als Veranstalter zeichnen verantwortlich: BDKJ Diözesanverband Aachen, Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen, Diözesanrat der Katholiken im Bistum Aachen, Katholisches Forum für Erwachsenen- und Familienbildung Mönchengladbach und Heinsberg, kfd Diözesanverband Aachen.