Die moralische Verantwortung der Kirche für Missbrauchstaten, die sie geduldet und vertuscht hat, hört nie auf. Hinter Paragraphen und Gremien darf sich ein Bischof nicht verstecken. Und wenn er es tut, muss er andere Wege wählen, außergerichtliche, damit die beschämende Einrede der Verjährung nicht zum Zuge kommen kann.
Diese klare Botschaft ging von einer Kundgebung aus, die der Betroffenenrat Aachen am 18. November am Elisenbrunnen veranstaltete. 400 Menschen kamen, deutlich mehr als erwartet und erhofft. Spürbarer Rückenwind für die Anliegen des Betroffenenrats, mit denen sich ein breites Bündnis katholischer Räte und Verbände solidarisiert.
Sprecherinnen und Sprecher kritisierten nicht nur das Prozessverhalten des Bistums Aachen, das als Schande bezeichnet wurde. Vielmehr fand die begleitende Kommunikation des Bistums starke Gegenrede. „Die Verantwortlichen dort haben es immer noch nicht verstanden,“ resümierte Prof. Thomas Kron, Vorsitzender der Unabhängigen Aufarbeitungskommission Aachen, mit Blick auf zitierte Äußerungen aus dem Vermögensrat, die Opfer hätten Zeit genug gehabt, ihre Ansprüche anzumelden.
Er forderte Bischof Dr. Helmut Dieser auf, andere Wege zu gehen, um nicht immer wieder auf ein Gremium mit einer solchen, wie Kron sagte, Verachtung der Opfer hören zu müssen. Ein Weg dazu könnte etwas sein, dass Paul Leidner vom Aachener Betroffenenrat vorstellte. Der Rat hatte mit dem früheren Generalvikar Dr. Andreas Frick ein Verfahren zur außergerichtlichen Einigung bei Missbrauchsverfahren verhandelt, das so genannte „Aachener Modell“.
Der Rat streckte auch bei der Kundgebung die Hand in Richtung Bischof und Bistum aus, die Gespräche über dieses Modell wieder aufzunehmen, um eine Befriedung zu fördern. Das, was bisher geschah, sei hingegen ein Grund, sich zu schämen, hieß es immer wieder, unter Bezug auf ein Wort von Papst Franziskus. Dieses Fazit fand bei - fast - allen Zuhörenden Unterstützung.
Nicht still hinnehmen, was hinter verschlossenen Türen geschah
Der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) im Bistum Aachen kommt das Verdienst zu, als erster katholischer Verband öffentlich Kritik am Prozessverhalten des Bistums geäußert zu haben, wenige Wochen nach dem Urteil des Aachener Landgerichtes. „Wir konnten nicht still hinnehmen, was hinter verschlossenen Türen im Bistum beschlossen wurde,“ begründete Marie-Theres Jung vor den 400 Teilnehmenden mit Blick auf die Gremien, welche dem Bischof laut eigener Darstellung die Einrede der Verjährung angetragen hatten.
„Wer maßt sich da an zu beurteilen, ob ein Opfer sexualisierter Gewalt den Klageweg beschreiten kann?“ fragte die kfd-Vorsitzende. Eine halbe Stunde später belegte das Manfred Schmitz vom Betroffenenrat mit seiner eigenen Biografie. Obwohl er selbst versierter Jurist ist, habe ihn das Aufsetzen der nötigen Schriftsätze in seinem Verfahren sehr viel Energie gekostet. Wie anders muss es zum Beispiel den Menschen gehen, die kaum oder gar nicht über das Erlebte sprechen können? Die sich nicht öffnen können? Die psychisch erkrankt sind?
Die öffentlich vom Bistum Aachen genannte Entschädigungssumme von 3,5 Millionen Euro wirkt auf den ersten Blick hoch. Der Betroffenenrat ordnete bei der Kundgebung diese Zahl ein. Bei den meisten Verfahren beläuft sich die Entschädigungssumme auf 10.000 bis 12.000 Euro. Keinesfalls steht der Rat mit der Kritik an der geringen Höhe dieser Zahlungen allein. Zitiert wurde ein Richter mit dem Wort, dass eine vergleichbare Summe Geschädigten eines Verkehrsunfalls für die Schmerzen eines Schleudertraumas zusteht. Um diese Summe zu erhalten, soll der Betroffene sexualisierter Gewalt seine Erinnerungen genau beschreiben.
„Wir müssen die Betroffenen ernst nehmen in ihren Positionen,“ betonte Stefan Dahlmann. Er ist ehrenamtlicher Vorsitzender des Bundes Deutscher Katholischer Jugend (BDJK) im Bistum Aachen. Bei der Kundgebung am Elisenbrunnen berichtete er von der großen Enttäuschung, welche die Jugendverbände nach der Einrede der Verjährung erfasst hatte. „Die Bemühungen um die Aufarbeitung sind massiv beschädigt und unglaubwürdig geworden.“
Wenn die Kirche neues Vertrauen gewinnen wolle, müsse sie über rein symbolische Maßnahmen hinaus handeln. Wird es im Zuge dessen zu einer verstärkten Verständigung der beteiligten Akteure kommen? Anita Zucketto-Debour vom Vorstand des Diözesanrats der Katholik*innen im Bistum Aachen begrüßte erste Bewegungen in diese Richtung.
Zugleich kritisierte sie, dass bei der aktuell geplanten Umstrukturierung der Diözese eindeutige Aussagen zu den systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt nicht beachtet würden. Klerikale Macht würde eher zementiert und konzentriert, anstatt sie zu teilen und zu kontrollieren, wie es das Aachener Missbrauchsgutachten forderte. Hätte Thomas Kron bereits das Wort gehabt, hätte es an dieser Stelle erneut geheißen: „Ihr habt es nicht verstanden.“