Wollen Jugendverbände ihrer historischen Verantwortung für Unrecht gerecht werden und zukünftiges Leid besser verhindern, müssen sie sich ihrer Missbrauchsgeschichte stellen. Fazit einer Aachener Online-Veranstaltung:An diesem schmerzhaften Prozess geht kein Weg vorbei
Wollen Jugendverbände ihrer historischen Verantwortung für Unrecht gerecht werden und zukünftiges Leid besser verhindern, müssen sie sich ihrer Missbrauchsgeschichte stellen. Fazit einer Aachener Online-Veranstaltung
Es ist ein düsteres Kapitel der Kirchengeschichte, das vor etwas mehr als einem Jahrzehnt auch in Deutschland aufgeschlagen wurde. Vieltausendfache sexualisierte Gewalttaten, ihre fortgesetzte Vertuschung und mangelhafte Aufarbeitung liegen wie ein dunkler Schatten über der Kirche. Und die Aufklärung des Unrechts und seine Aufarbeitung stehen erst am Anfang. Jedes kirchliche Arbeitsfeld und jeder kirchliche Akteur ist um der Betroffenen und der Zukunft willen aufgefordert, sich der eigenen Verantwortung für traumatische Erfahrungen und lebenslanges Leiden zu stellen.
Davon sind auch kirchliche Jugendverbände nicht ausgenommen. Einige wie der Dachverband „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ (BDKJ) stehen in den Startlöchern, gründen Gremien, bereiten Studien vor, klären Strukturen und Abläufe einer unabhängigen Begleitung. Die Aachener Professorin Marianne Genenger-Stricker skizzierte kürzlich bei einer Online-Veranstaltung den Stand beim BDKJ, der qualitativ gut aufgesetzt alle Mitgliedsverbände in die Aufarbeitung einbeziehen wird.
Als Pionier außerhalb der Kirche schreitet der kleine „Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder“ (BdP) mit der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt voran. Offen und transparent berichtete Benjamin Holm, Ehrenamtlicher des BdP, von Ansätzen und Erfahrungen. Mutig und schmerzhaft sind die Grundannahmen, mit denen dieser nicht-konfessionell getragene Jugendverband in den Prozess startete. Er ging zum Beispiel gleich zu Beginn davon aus, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in seinen Reihen ereignet haben. Er ging außerdem davon aus, dass Netzwerke von Tätern und Vertuschern das Unrecht aktiv kaschiert haben. Diesen „gefühlten Wahrheiten“ gehen nun Forscher mit Analysen und Interviews nach.
Es gehe darum, mit dem Wissen von heute neu auf die Jugendverbandsarbeit zu schauen, um Geschehenes aufzuarbeiten und Risiken für die Zukunft zu verringern, betonte Marianne Genenger-Stricker. Sie nannte zum Beispiel die Rituale und Traditionen von Verbänden, die aus heutiger Sicht übergriffig und grenzüberschreitend gestaltet seien, wie Flaschendrehen oder Kleiderketten. Was die einen als großen Spaß ihrer Kindheit und Jugend in Erinnerung behalten haben, war für andere eine bedrängende, negativ prägende Erfahrung im Konflikt zwischen eigenem Empfinden und der Gruppe.
Beim Austausch wurde deutlich, dass bei der Konfrontation mit der eigenen historischen Verantwortung für Missbrauch und Leid der Betroffenen die gleichen schmerzhaften Prozesse zu erwarten sind wie bei anderen Gliederungen der Kirche. Auch hier wird es zum Beispiel Reflexe der Abwehr geben, wie sie in der Vergangenheit Taten und Täter gedeckt und gestärkt haben. Und es wird große Verwerfungen um Täter geben, die bislang zur positiven Geschichtsschreibung und zur Identität eines Verbandes beitrugen. Wie gestaltet man künftig das Gedenken an sie?
Im Mittelpunkt bei der Aufarbeitung sollen die Blickwinkel und Bedürfnisse der Betroffenen stehen, hieß es in Aachen. Der Mantel des Schweigens, der ihre Erfahrungen und ihr Leid lange überdeckt hat, soll unter Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte weggezogen werden. Diese ausgesprochen schwierige Balance zwischen Aufarbeitung und Retraumatisierung soll durch externe und unabhängig agierende Expertise gewahrt werden. Die Logik, davon auszugehen, dass auch Jugendverbände Täterorganisationen sind, muss auch hier greifen – Täter sollten Betroffene nicht befragen.
Eine Einschätzung des Abends lautete, dass die Jugendverbände vor unterschiedlich großen Herausforderungen stehen. Die Aufgabe heißt, sich in einer unbequemen, auch das gewohnte und geliebte Miteinander erschütternden Form der eigenen Verantwortung zu stellen. Allen Beteiligten steht viel Arbeit bevor, die dem Wesen nach nicht in Verbindung zu dem steht, mit dem sich Jugendverbände als Ziel und Kultur identifizieren. Und doch geht kein Weg an selbstkritischer Aufarbeitung vorbei, um besser als bisher den Anspruch zu verwirklichen: ein guter und sicherer Ort für Kinder und Jugendliche zu sein.
Info
Die von Simon Hinz, ehrenamtlicher Diözesanvorsitzender des BDKJ-Diözesanverbands Aachen, moderierte Online-Veranstaltung gehörte zu einer Veranstaltungsreihe, die sich mit den systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche beschäftigt.
Mehr Informationen unter www.wiedervorlage-aufarbeitung.de. Als Veranstalter zeichnen verantwortlich: BDKJ Diözesanverband Aachen, Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen, Diözesanrat der Katholik*innen im Bistum Aachen und kfd Diözesanverband Aachen.