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Wie sichern wir die Menschen ab?

Das Forum Diakonische Pastoral diskutierte im Werkstattgespräch die Zukunft des Wohlfahrtsstaates

Wie sichern wir die Menschen ab? (c) www.pixabay.com
Wie sichern wir die Menschen ab?
Datum:
Do. 5. Okt. 2017
Von:
Kathrin Albrecht
Es zählt zum Selbstverständnis der Kirche, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten, damit auch die Menschen, die am Rand stehen, ein gutes Leben führen können.
Wie sichern wir die Menschen ab? (c) Kathrin Albrecht
Wie sichern wir die Menschen ab?

 Im Bistum Aachen setzen sich zahlreiche haupt- und ehrenamtlich Engagierte in der diakonischen Pastoral ein. Sie organisieren Seniorencafés, begleiten Langzeitarbeitslose oder Familien.

Rund 50 von ihnen trafen sich beim Werkstattgespräch des Forums Diakonische Pastoral, um über die Zukunft des Sozialstaates zu diskutieren. Das Forum wird getragen von der Hauptabteilung Pastoral/Schule/Bildung des Bischöflichen Generalvikariats, dem diözesanen Caritasverband und dem Diözesanrat der Katholiken. Das Prinzip des Sozialstaats, verankert im Grundgesetz, sei ein hohes Gut, betonte Pfarrer Rolf-Peter Cremer, Leiter der Hauptabteilung. Die konkreten Ausformungen gelte es, immer neu in den Blick zu nehmen, zu verhandeln und zu überprüfen. Die gerade stattgefundene Bundestagswahl lässt viele zunächst abwartend zurück. Welche Parteien finden sich wie zusammen? Und was bedeutet das für die Ausrichtung des Sozialstaats? Welche Rezepte findet die Politik auf die aktuellen Herausforderungen wie den demografischen Wandel und die Digitalisierung des Arbeitsmarktes? Wird es mehr oder weniger Sozialstaat geben? Und wie positioniert sich die Kirche dazu?

Fragen, mit denen sich auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder befasst. Als ehemaliger Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg kennt er auf der politischen Handlungsebene auch die Möglichkeiten und Grenzen des Sozialstaats. Im Kern dieses Sozialstaats steht der von Otto von Bismarck eingeführte Sozialversicherungsstaat. Rund 900 Milliarden Euro, das entspricht einem Drittel des Bruttosozialprodukts, investiert Deutschland in seine sozialen Sicherungssysteme. Rund zwei Drittel, also 600 Milliarden Euro, fließen in die reinen Sicherungssysteme. Ein Drittel, rund 300 Milliarden Euro, sind für vorsorgende Maßnahmen vorgesehen. Diese haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen.

 

Wie verändert sich der Sozialstaat durch die gesellschaftlichen Herausforderungen?

Im Gegensatz zum nachsorgenden Sozialstaat, der Notlagen lindert, versucht der vorsorgende Sozialstaat, diese Notlagen gar nicht erst entstehen zu lassen. Es geht darum, frühzeitig in den Blick zu nehmen, wie Menschen ihren Platz in der Gesellschaft finden und welchen Beitrag Gesellschaft und Politik dazu leisten können. Eine große Herausforderung ist die enge Koppelung des Sozialstaates an die Erwerbsarbeit. Was bedeutet das vor dem Hintergrund der tief greifenden Veränderung des Arbeitsmarktes? Was geschieht mit den Menschen mit geringer Qualifikation, die im industrialisierten Arbeitsmarkt dennoch die Möglichkeit hatten, durch Arbeit ihr Leben zu gestalten und sogar eine Karriere zu machen? Schon jetzt erleben sie die frustrierende Erfahrung, in einem System der fortwährenden Zertifizierung zu scheitern. Die zweite große Herausforderung ist der demografische Wandel. Dieser werde von der Politik noch immer unterschätzt. Auch hier ergeben sich Fragen: Wie finanzieren wir den Sozialstaat weiter durch Erwerbsarbeit, wenn die Zahl der Einzahler sinkt? Nach Ansicht Schroeders brauche es jedoch keinen kompletten System-, sondern einen Strategiewechsel: eine vorsorgende Sozialpolitik, die den nachsorgenden Sozialstaat ergänzt, so früh wie möglich in das Potenzial von Menschen investiert, qualifiziertes Personal stärkt, hochwertige Infrastruktur weiter auf- und ausbaut.

 

Was beobachten Mitarbeiter in den diakonischen Projekten?

Damit hatte Schroeder den Teilnehmern des Werkstattgesprächs viel Diskussionsstoff in den verschiedenen Arbeitsgruppen geliefert. Das Forum nahm vor allem drei Schwerpunkte in den Blick, die in verschiedenen Lebensphasen der Menschen ansetzen: Schulsozialarbeit, Ausbildungs- und Familienpatenschaften sowie Quartiers- und Altenarbeit. Auf alle Bereiche trifft zu, dass die Projekte darauf zielen, Menschen frühzeitig zu begleiten. Viele Projekte arbeiten auf kommunaler Ebene, das ist auch die Ebene, wo die Sozialpolitik umgesetzt wird. In ihrem jeweiligen Arbeitsbereich machen die Initiativen unterschiedliche Erfahrungen. In der Schulsozialarbeit beispielsweise fehlt es an rechtlicher Anerkennung. Auch Wolfgang Schroeder bemängelt, dass es bei vielen guten politischen Initiativen oft nicht über einen Projektcharakter hinausgeht. In der Alten- und Quartiersarbeit sowie bei Patenschaftsmodellen für Familien und Schüler gibt es viele Projekte, die ähnlich arbeiten. Hier wünschen sich die Beteiligten mehr Vernetzung untereinander.

 

Was braucht es für einen vorsorgenden Staat?

Bei aller guten und erfolgreichen Projektarbeit haben dennoch einige das Gefühl, dass es nicht nur eines Perspektiv-, sondern eines grundlegenden Systemwechsels bedarf, um wirklich etwas an den sozialen Ungleichheiten zu verändern. Ein Wechsel hin zu einem starken Sozialstaat, in dem beispielsweise auch eine massive Umverteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen, beispielsweise in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens, stattfinden würde, stößt andererseits aber auch auf Skepsis. Wenn der Staat alles macht, machen Kirche und Caritas sich dann nicht überflüssig?

 

Wie kann sich Kirche in der Gesellschaft positionieren?

Viele sind sich in der Diskussion einig, dass sich Kirche oft zu wenig zu sozialpolitischen Themen positioniert. Wenn Menschen nur als Wirtschaftsfaktor gesehen werden, widerspricht sie zu wenig. Eine andere Frage ist es, wie sich Kirche und Caritas als Arbeitgeber verhalten. Oft unterscheiden sich kirchliche Einrichtungen da nicht von Einrichtungen anderer freier Träger, beispielsweise in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bewirbt sich zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter bei einem Pflegeheim, steht sie vor dem Problem, ihren Schichtdienst mit den Kita- und Schulzeiten in Einklang bringen zu müssen. Oft genug klappt es nicht mit dem Job, weil sich Kinder und Beruf in diesem Fall nicht unter einen Hut bringen lassen. Müsste das nicht anders sein? Auch im Bereich der Schulsozialarbeit müsste Kirche nicht nur fordern, sondern selbst einmal Vorreiter sein. An den Schulen im Bistum in bischöflicher und katholischer Trägerschaft haben fünf Schulen mindestens eine Stelle für Schulsozialarbeit eingerichtet, an zehn Schulen begleiten Schulseelsorgerinnen und -seelsorger die Schüler. Drei Schulen haben sowohl Schulpastoral als auch Schulsozialarbeit eingerichtet. Auch Wolfgang Schroeder sieht in der Kirche einen wichtigen Akteur im gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Die Herausforderungen der nahen Zukunft könnten die staatlichen Institutionen nicht alleine bewältigen. Es braucht eine belastbare Achse in der Zivilgesellschaft – und da gehört die Kirche dazu.

Wie sichern wir die Menschen ab? (c) www.pixabay.com
Wie sichern wir die Menschen ab? (c) Phovoir/Shutterstock
Armut (c) www.pixabay.com