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Jetzt erst recht: Wir können nicht stehenbleiben

Aachener Tagung zeigte drängende Entwicklungsbedarfe der katholischen Sexualmoral auf. Ernster Hintergrund: So, wie sie zurzeit ausgestaltet ist, fördert sie sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche

Äpfel (c) dr
Äpfel
Datum:
Di. 23. März 2021
Von:
Diözesanrat Aachen | Thomas Hohenschue

Wie die systemischen Ursachen bearbeiten und beseitigen, die bekanntermaßen sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche fördern? Diese Frage steht im Vordergrund einer bundesweit beachteten Veranstaltungsreihe im Bistum Aachen. Sie nimmt sich Punkt für Punkt die Knackpunkte vor, die eine substanzielle Bewegung der Institution erfordern. Den Beginn machte am 19. März 2021 das große Streitthema der katholischen Sexualmoral, mit mehr als 120 Teilnehmenden.

In nahezu prophetischer Voraussicht hatten die Veranstalter die Online-Tagung programmatisch betitelt: „Kirche und Sexualität – eine gestörte Beziehung“. Als hätte es noch eines Belegs für die Plausibilität dieses Titels benötigt, versetzte ein paar Tage zuvor ein offizielles römisches Verbot der Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nicht nur die katholische Welt in Aufruhr. Verletzte Gefühle, empörter Protest und pastoraler Ungehorsam prägen seitdem das Bild.

Der lautstark geführte Konflikt zwischen traditionellem Lehramt und moderner Gesellschaft verlieh der Tagung eine ungeahnte Aktualität und kirchenpolitische Brisanz. Mit an Bord waren die beiden Leitungen des Synodalforums „Leben in gelingenden Beziehungen“, der Aachener Bischof Dr. Helmut Dieser und Birgit Mock, sowie der Bonner Moraltheologe Prof. Joachim Sautermeister. Das gab die Chance, klare Kante gegenüber der römischen Intervention zu zeigen.

Das tat der Aachener Bischof. Der Zwischenruf aus Rom stelle den Versuch dar, einen Blattschuss zu setzen auf die Diskussion im Synodalforum, sagte er. Aber dieser Schuss werde den eröffneten kollegialen und synodalen Diskurs nicht erlegen, machte Dr. Helmut Dieser klar. Die Sexualmoral müsse sich verheutigen, Sexualität neu bewertet werden, bekräftigte auch Birgit Mock. Der Aachener Bischof und sie schlossen explizit gleichgeschlechtliche Beziehungen in diese Perspektive ein.

Prof. Joachim Sautermeister arbeitete die Knackpunkte heraus, an denen die kirchliche Beziehung zur Sexualität immer stärker leide. Die tradierte Sexualmoral hebe zu stark auf die Dimension der Weitergabe des Lebens ab, auf die Fortpflanzung. Sie missachte so die anderen Dimensionen von Sexualität, etwa in ihrer Bedeutung für die persönliche Identität und Vitalität sowie für die Qualität und Tiefe der Paarbeziehung. Und sie sei zudem auf eine heterosexuelle Sicht verengt.

Dabei lasse das Lehramt außer Acht, was die Humanwissenschaften an Erkenntnissen beigesteuert habe, sagte Sautermeister. Es sei eben keine Frage der Wahl und der Moral, wie sich ein Mensch sexuell orientiert, sondern diese Orientierung sei faktisch einem Menschen als Veranlagung mitgegeben. Diese Erkenntnis nehme immer stärker Einfluss auf unser Zusammenleben und unsere staatlichen Gesetze. Nur die Kirche tue fälschlicherweise noch so, als könnte und als müsste sie die sexuelle Orientierung über ihre sakramentale, rituelle und pastorale Praxis steuern.

Bischof Dieser machte deutlich, dass es für die Kirche und so manche Christinnen und Christen einen langen Entwicklungsweg benötige, um von einem traditionellen lehramtlichen Verständnis von Sexualität zu einem neuen zu kommen, das die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse integriere. Aber es brauche diese Zumutung und Anstrengung, um das Evangelium in Deutschland und Europa neu zu inkulturieren, griff der Aachener Bischof ein zentrales Anliegen von Papst Franziskus auf. Birgit Mock verstärkte diese Absicht mit dem Hinweis, dass die Glaubwürdigkeit und Relevanz der Kirche massiv zusammenbrechen und daher für Korrekturen nur noch wenig Zeit bleibe.

Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten auszuhalten, aber insgesamt zu einer neuen, pluralen, positiven katholischen Sicht auf Sexualität zu kommen, verband die Akteure des Abends mit dem Plenum. „Wir können nicht stehenbleiben“, bekräftigte Bischof Dieser den festen Willen, zu substanziellen Verbesserungen im kirchlichen Umgang mit Sexualität, sexueller Orientierung und Identität zu kommen. Sein persönlicher Weg ist der kollegiale und synodale Diskurs auf Bundesebene. Weitere warten da nicht auf Ergebnisse, sie segnen und handeln, wie es ihr Gewissen gebietet, als Christinnen und Christen und als Seelsorgerinnen und Seelsorger.

Beides ist nicht im Sinne dessen, was wohl die Glaubenskongregation mit ihrer Note beabsichtigte, hieß es in Aachen. Was diese römische Intervention inhaltlich vertrat, ist nach dem Austausch zwar besser verstanden. Dies aber heißt wahrlich nicht, dass man diesem Einwurf folgt. Im Gegenteil bleibt die Überzeugung, dass der lebensferne, mit Tabus und Verklemmungen verbundene Umgang der Kirche mit Sexualität eine Quelle sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche ist. Von daher ist es nicht modernistisch, sondern verantwortungsethisch und zutiefst moralisch, zu einer neuen Sicht und einer neuen Bewertung von Sexualität in all ihren lebens- und liebesdienlichen Formen zu kommen.

 

Nächstes Thema: Klerikalismus

„Klerikalismus. Erkennen und überwinden“, Donnerstag, 25. März, 19:00 bis 21:00 Uhr, online. Mit dem Aachener Generalvikar Dr. Andreas Frick, Prof. Maria Widl, Pastoraltheologin aus Erfurt, und Ludger Verst, Theologe und Publizist aus Dreieich/Frankfurt. Mehr unter www.wiedervorlage-aufarbeitung.de.