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Lebendige Kirche
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Hören wir wirklich genau hin?

Kirche im Bistum Aachen auf dem langen Weg in eine Pastoral der Arbeit

Arbeit (c) Thomas Hohenschue
Arbeit
Datum:
Di. 24. Jan. 2017
Ein Blick zurück hilft häufig, die Gegenwart besser zu verstehen. Er kann auch Brücken in die Zukunft schlagen. So mag es auch beim sozialpastoralen Einsatz rund um die Arbeitswelt sein.
Arbeit (c) Thomas Hohenschue
Arbeit

Das Bistum Aachen schaut hier auf eine reiche Tradition zurück, die in die Gründerzeiten der industriellen Revolution zurückreicht. Katholische Vereine, Verbände und Ordensgemeinschaften kümmerten sich um Beschäftigte und Arme. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerieten die alten Industrien, welche zum Wohlstand des Rheinlands beigetragen hatten, in die Krise. Bei dem Strukturwandel weg von Kohle, Stahl, Tuch und einigem mehr blieben viele Beschäftigte und ihre Familien auf der Strecke.

Vor diesem Hintergrund rief der damalige Bischof Klaus Hemmerle 1980 den pastoralen Schwerpunkt „Kirche und Arbeiterschaft“ aus. Unter diesem Dach bündelten sich kirchliche Initiativen, die mit Arbeitnehmern sowie mit Arbeitslosen, Einkommensarmen und anderen benachteiligten Bevölkerungsgruppen arbeiteten. Eine vom inzwischen emeritierten Bischof Heinrich Mussinghoff einberufene Kommission begleitet diesen kirchlichen Einsatz. Die KiZ tauschte sich mit den Sprechern, Renate Müller und Pfr. Rolf-Peter Cremer, über Pläne und Perspektiven aus.

 

Wo liegen heute, fast vier Jahrzehnte nach Ausrufung von „Kirche und Arbeiterschaft“, die Herausforderungen für Sie?

Renate Müller Immer wieder höre ich: Die Sache ist doch von gestern, kalter Kaffee. Und dann sage ich: Das Gegenteil ist der Fall! Wir müssen nur genau hinschauen. Was die Würzburger Synode „Arbeiterschaft“ genannt hat, wird heute als „Prekariat“ bezeichnet. Diese Gruppe ist nicht kleiner geworden. Ich denke an die vielen Beschäftigten, die schlecht bezahlt werden, schlecht abgesichert sind, trotz Vollzeitarbeit noch von Hartz-IV-Leistungen abhängig sind.

Rolf-Peter Cremer Die Arbeitswelt hat sich verändert und tut dies weiter. Ich nenne nur als Stichworte die Globalisierung, Industrie 4.0 und Wissensarbeit. Meine Wahrnehmung ist, dass dies ganz erheblichen Einfluss auf den Alltag der Beschäftigten und ihrer Familien nimmt. Der Beruf bringt heute mehr Zwänge mit sich als früher. Und das gilt nicht nur für die Leute, die trotz Arbeit nicht mit ihrem Lohn auskommen. Sondern auch bei den anderen ist nicht nur heile Welt.

 

Wie meinen Sie das?

Rolf-Peter Cremer Manche Vollzeitbeschäftigte, auch wohlhabende, leben in dem Bewusstsein: Ich bin austauschbar, ich bin nur eine Nummer. Und meine Zeit wird fremdbestimmt. Die Arbeit frisst mich auf. Das sind große seelsorgliche Herausforderungen. Ich frage mich oft, ob wir in den Gemeinden genügend auf diese Sorgen und Nöte eingehen. Mehr noch: Ich frage mich, ob wir das überhaupt sehen.

Renate Müller Ich beobachte, dass in der Kirche nur selten über die Arbeitswelt gesprochen wird. Eher weiß man voneinander, was man für Hobbys hat, als dass man voneinander erfährt, wie sich der Arbeitsalltag gestaltet. Das wundert mich, denn das nimmt einen so großen Einfluss auf das kirchliche Leben. Denkt man kurz darüber nach, ist es klar: Die zeitlichen Anforderungen in der Arbeitswelt lassen immer weniger gemeinsame Freizeit zu, eine wesentliche Voraussetzung für gemeinsames ehrenamtliches Engagement. Lassen es die Anforderungen des Berufs noch zu, sich über die Familie hinaus in Gemeinde oder Verband einzusetzen?

 

Was ist zu tun?

Rolf-Peter Cremer Ich meine, wir müssen uns selbstkritisch hinterfragen. Papst Franziskus hat uns aufgerufen, an die Ränder zu gehen. Das müssen wir sowohl in der theologischen Reflexion als auch in der Pastoral nachvollziehen. Auch in unserer Arbeit und der Beziehung mit den Menschen können wir die unbedingte Zuwendung Gottes sichtbar machen und seine Botschaft der Hoffnung.

Renate Müller Es darf uns nicht länger fremd sein, über die Arbeit zu sprechen. Und zwar, bei aller Ungerechtigkeit, nicht zuerst in einem ideologischen Sinne, sondern ganz konkret. Denn bei den meisten Menschen nimmt die Arbeit ganz wesentlich Einfluss auf das Leben und auch auf den Glauben. Ich meine, wir müssen in erster Linie vom Leben der Menschen her denken – wie sonst können wir auf das Leben einwirken?

Rolf-Peter Cremer Es kann ganz einfach sein und fällt doch vielen schwer. Das ist nicht zuletzt auch eine Anfrage an das pastorale Personal. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen: Bei Taufgesprächen und ähnlichen Gelegenheiten lässt sich vieles thematisieren, auch die Berufswelt und die damit verbundenen Erfahrungen. Die Gesprächspartner fühlen sich ernst- und wahrgenommen. Eine umgekehrte Situation bewirkt Enttäuschung und Entfremdung. Das erreicht mich immer wieder. Ich frage auch in Selbstreflexion: Hören wir wirklich genau hin? Wir überraschen Menschen, wenn wir ehrlich interessiert auf sie zugehen.

 

Wie geht es weiter mit dem Schwerpunkt?

Renate Müller Wir haben uns in letzter Zeit wieder neu mit dem theologischen Fundament beschäftigt. Wir sind Anwalt der Würde, heute wie vor 37 Jahren. Und wir haben die Herausforderungen in der Arbeitswelt benannt. Jetzt geht es darum, die Anliegen in die Fläche zu tragen, also in die Gemeinden. Das war immer die größte Herausforderung und gelang eher schlecht als recht. Eine Idee, wie das in Zukunft dann doch gelingen kann?

Rolf-Peter Cremer Wir müssen in unserem Bistum wieder sichtbarer machen, dass wir Sozialverbände und Einrichtungen haben, die hartnäckig über Jahre und Jahrzehnte am Ball bleiben. Dies geschieht mit einer klaren Anwaltschaft für benachteiligte Gruppen in der Arbeitswelt. Aber wir müssen uns in der Pastoral auch öffnen. Wenn wir offen sind für neue Wahrnehmungen, Begegnungen, Kooperationen, können wir nur gewinnen – und mit uns die kirchliche Praxis, Menschen mit und ohne Arbeit und unterschiedlichen Erfahrungen mit Arbeit in ihrem Leben und Glauben zu begleiten. Es gibt gute Beispiele. Es braucht mehr.

Renate Müller Wir haben über pastorale und diakonische Dienste im Bistum Aachen Einblicke in die Arbeitswelt, die noch nicht in einen Zusammenhang gebracht sind. Daran wollen wir arbeiten. Ich denke zum Beispiel an die wertvollen Erfahrungen, die Krankenhausseelsorgerinnen machen. Daraus können wir Inspiration schöpfen und uns zuweilen auch selbstkritisch dort hinterfragen, wo wir als Arbeitgeber tätig sind. Und auch eine Wiederbelebung oder Intensivierung der Kontakte zu Gewerkschaften liegt mir am Herzen. Sie sind im Kern geborene Bündnispartner. Mir tut es weh, wenn ein Betriebsrat sagt: Kirche, das ist doch ein Club, wo keiner mehr hingeht. Das sehe ich gar nicht als Problem des Betriebsrats, sondern als unseres. Ich frage mich: Wo sind wir wirklich sichtbar und wirksam? Und wo nicht? Es ist nämlich nicht für die Gemeinde egal, wenn nebenan ein Betrieb schließt. Wenn wir uns auf diese Gedanken einlassen, werden wir sehen, dass auch dort der Geist Gottes kräftig weht.

Das Gespräch führte Thomas Hohenschue.

Arbeit (c) Monkey Business Images/shutterstock.com