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Kolumbien
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Lebendige Kirche
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Gewaltige Ungleichheit, gewaltige Herausforderungen

Die Pandemie hat in vielen Ländern gezeigt, was schiefläuft in Wirtschaft und Gesellschaft. Eine deutsch-kolumbianische Dialogtagung in Aachen lotete Wege aus, wie sich da gegensteuern lässt

Dialogtagung (c) Thomas Hohenschue
Dialogtagung
Datum:
Sa. 7. Mai 2022
Von:
Thomas Hohenschue

Das Coronavirus hat die Menschheit weltweit in den letzten zwei Jahren in Schach gehalten. Schonungslos hat die Pandemie die Stärken und Schwächen unserer Gesellschaften offengelegt. Das gilt auch für die Frage, wie ungleich die Chance auf ein gutes Leben verteilt ist. Das gilt zwischen Ländern und Kontinenten, aber auch in jedem Land. Die Entwicklung der Vermögen unter den Bedingungen der Gesundheitskrise durch Sars-CoV-2 spricht Bände, was schiefläuft.

Eine Dialogtagung des Aachener Diözesanrats der Katholiken am 7. Mai 2022 in Aachen nahm die Effekte der Krise in Deutschland und Kolumbien unter die Lupe. Und sie stellte soziale, wirtschaftliche und ökologische Auswirkungen der Krise in einen größeren Zusammenhang. Quintessenz der gemeinsamen Betrachtung: Unsere profitorientierte Art zu wirtschaften gehört auf den Prüfstand, sie hat in der Krise versagt und verursacht seit Jahrzehnten vielfältige Probleme. Sie gefährdet und verletzt in vielen Regionen Menschenrechte, sie überstrapaziert den Planeten und das Klima.

In den offenen Austausch über diese existenziellen Themen kamen Menschen, die sich in der Partnerschaft zwischen Bistum Aachen und der Kirche von Kolumbien engagieren, und zwar auf beiden Seiten des Ozeans. Aus ihrer Arbeit in sozialen Fragen, in der Bildung, in der Friedensarbeit kennen sie die Herausforderungen. Und sie kennen Wege oder haben zumindest die Phantasie, wie sich die Zukunft humaner und nachhaltiger gestalten lässt. Die Uhr tickt, denn sozialer Frieden und Demokratie sind fragil, das Klima droht zu kippen. Der Krieg in der Ukraine verstärkt den Druck.

 

Den Siegeszug des Neoliberalismus stoppen

Wie hat sich die Ungleichheit in der Pandemie entwickelt? Frappierende Zahlen legte Manuel Schmitt, Referent für Soziale Ungleichheit bei Oxfam Deutschland e.V. vor. Grundsätzlich gilt schon länger ein unfassbarer Fakt: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt 20-mal mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Corona hat diese Kluft vertieft, in historisch beispiellose Höhen geschraubt: Die weltweit 2.755 Milliardäre haben ihr Vermögen seit Pandemiebeginn um mehr als 50 Prozent gesteigert, die zehn reichsten Menschen haben es sogar verdoppelt.

Dem gegenüber stehen wachsende Probleme von extremer und relativer Armut, von mangelhafter Teilhabe an Bildung, Gesellschaft und Politik, von Unterernährung und Hunger, von vergifteten und zerstörten Lebensgrundlagen, von Rechtlosigkeit, Gewalt, Willkür. Die Zusammenhänge mit einer Wirtschaftsweise, die den Profit in den Vordergrund stellt, statt gemeinwohlorientiert zu arbeiten, liegen auf der Hand. Manuel Schmitt kennt Kohorten von Daten aus internationalen Studien, die das alles belegen. Die Leidtragenden sind die Armen und Ärmsten, weltweit und in jedem Land.

Oxfam wirbt dafür, den Teufelskreis zu durchbrechen, der die kapitalistische Weise zu wirtschaften verfestigt und vertieft. Die Regeln, welche die Politik setzt, begünstigen bislang Konzerne und ihre Eigentümer. Das muss umgedreht werden zu Gunsten der allgemeinen Bevölkerung. Stellschrauben sind zum Beispiel die Entflechtung bei der Marktmacht von Konzernen, eine stärkere Besteuerung von Konzernen und riesigen Vermögen und eine Verpflichtung von Unternehmen auf soziale und nachhaltige Ziele. Der Gesetzgeber ist gefordert, die rechtlichen Grundlagen dafür zu schaffen.

Aber wie die Regierungen und Parlamente dazu bringen, anders zu gestalten als in den letzten Jahrzehnten? Noch hält der Siegeszug der neoliberalen Idee an, den Profit ins Zentrum deregulierter Märkte zu stellen. Es braucht daher Druck, der von der Zivilgesellschaft kommen muss. Das kann gelingen. Manuel Schmitt machen zum Beispiel die politischen Erfolge von Fridays for future und feministischer Bewegung Mut. Und die beharrliche Selbstorganisation und Selbstverwaltung vieler lokaler und regionaler Gemeinschaften an vielen Orten in der Welt zeigt, dass es anders geht.

 

Die Ungleichbehandlung der Armen beenden

Über die Situation im eigenen Land zu sprechen, fördert manchmal noch einmal fokussiert unangenehme Wahrheiten zu Tage. So sind zwar der Reichtum der Wirtschaftsmacht Deutschland und ihr allgemeiner Wohlstand unübersehbar, im Vergleich zu anderen Ländern. Aber kaum eine andere Nation eröffnet ihren Kindern und Jugendlichen so wenig eine Chance, wirtschaftlich und sozial aufzusteigen, wie die deutsche. In kaum einem anderen Land bestimmt die soziale Herkunft so stark den Bildungsweg, berufliche Entwicklungschancen und Einkommen wie in Deutschland.

Diese Ungleichbehandlung zeigte sich wie im Brennglas während der Pandemie, wie Marianne Genenger-Stricker betonte, Professorin an der Katholischen Hochschule Aachen. Zwar hat der deutsche Staat viel Geld ausgegeben, um Unternehmen und private Haushalte vor allzu großen wirtschaftlichen Härten zu schützen. Aber ohnehin benachteiligte Gruppen wie Zugewanderte und Geflüchtete, wie Alleinerziehende und Erwerbslose sowie kinderreiche Familien wurden dabei deutlich weniger unterstützt. Die Leidtragenden waren vielfach, neben Frauen, Kinder.

Marianne Genenger-Stricker zeichnete die fatalen Folgen einer nicht abgefederten Situation in den betroffenen Familien nach: Lernrückstände im Vergleich zu anderen Kindern, Bewegungsmangel und nachteilige Ernährung, erhöhte häusliche Gewalt und seelische Probleme, gerade dort, wo Existenzsorgen herrschten. Es fehlt an ausgleichender, vorsorgender Sozialpolitik, betont die Professorin mit Blick auf diese Erfahrungen. Dass es zu wenig Begleitung in den Übergängen gab, wird nach ihrer Einschätzung betroffene junge Erwachsene für ihr ganzes Leben prägen.

Aus den Erfahrungen der Pandemie leitet Marianne Genenger-Stricker ab, dass den Familien mehr Aufmerksamkeit gebührt. Die Daten besagen: Wenn es den Eltern gut geht, geht es auch den Kindern gut. Familien müssen daher armuts- und krisensicher ausgestattet werden. Der Ukraine-Krieg mit seinen inflationstreibenden Effekten auf Energie- und Nahrungsmittelpreise unterstreicht, dass es dringend an der Zeit ist, aus der pandemischen Krise zu lernen. Dabei ist der Professorin wichtig, den Kindern und Jugendlichen selbst zuzuhören. Arme und junge Menschen haben bisher keine Lobby, welcher die Politik wirklich gut zuhört. Jedenfalls handelt sie nicht systematisch danach.

 

Am Frieden arbeiten, von indigener Kultur lernen

Die Dialogtagung lebte vom neugierigen Nachfragen und ehrlichen Auskünften. Die kolumbianischen Gäste gaben einen tiefen, authentischen Einblick in die verstörenden Erfahrungen in der Pandemie. Genau wie in Deutschland hat das Virus auch in Kolumbien die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Armen vertieft, vielfach auf leidvolle, tödliche Weise. Genau wie in Deutschland haben sich demgegenüber manche Vermögen stark vermehrt. In Kolumbien legten besonders der Finanzsektor, der Bergbau und die Erdölindustrie während der dramatischen Gesundheitskrise zu.

Wir haben viel gemeinsam, sagte Jaime Daniel Bernal Gonzalez, Projektkoordinator bei der Fundación Concern Universal Colombia. Die umfassende Krise und der dabei offengelegte kalte Egoismus von Regierungen und Konzernen. Aber auch die Erfahrung der Solidarität, gerade auch unter den Armen. Daran gemeinsam anzuknüpfen, in den Vernetzungen, bei Treffen, voneinander zu hören und zu lernen, sich gegenseitig zu inspirieren, ist die große Chance in der Partnerschaft zwischen Bistum Aachen und der Kirche von Kolumbien. 60 Jahre gibt es sie nun schon.

In Kolumbien sind die Herausforderungen weiter groß. Gustavo Bocanegra Ortegon engagiert sich als ehemaliger Kämpfer der FARC für den Frieden in Kolumbien. Vielerorts gingen Gruppen des Konflikts in Vorleistung, erfüllten ihren Teil des Friedensvertrages. Aber die Regierung erledigt ihre Aufgaben nicht, kritisiert der Kolumbianer. Die zugesagte Landreform bleibt aus, während die Militarisierung der Straße zurückkehrt. Viele Menschenrechtsverletzungen sind zu verzeichnen, wie auch politische Morde und das Niederknüppeln und Niederschießen von Demonstrationen. Mit einer unsozialen Steuerreform heizte die Regierung die Spannungen an.

Wie existenziell die Nöte in indigenen Gemeinschaften sind, machte Wilson Alexander Vera Bucuru deutlich. Zuwenig Ressourcen für die Landwirtschaft, Wassermangel, flutartige Regenfälle, kaum Internet und Rechner, würdelose Wohnverhältnisse, zeitweise nur ein Essen pro Tag, ein Leben von Tag zu Tag, ohne zu wissen, ob es morgen noch Arbeit, Geld und Nahrung gibt – nur ein paar Stichworte, was das Leben in und jenseits der Pandemie ausmacht. Wir kämpfen weiter für unsere Rechte, betonte der Vertreter der Pijao, und bewahren unsere Kultur, leben mit der Natur und pflegen unsere Gemeinschaft.

Von der indigenen Lebensweise im spirituell gestärkten Einklang mit Mensch und Natur können andere lernen. Sie steht im krassen Kontrast zur kapitalistisch geprägten Lebensweise. Wir sind Hüterinnen und Hüter des Lebens, skizzierte Jose Bernardo Largo Perdomo, Gobernador einer Nasa We’sx Gemeinde. Die Mutter Erde ist Grundlage des Lebens, wir müssen sie pflegen und schützen. Das tun wir weiterhin, trotz allen Unrechtes, das uns widerfährt, betonte er. Denn mit gutem Beispiel voranzugehen, führt in eine gute Zukunft. Erforderlich ist auf allen Ebenen in allen Ländern ein Mentalitätswechsel, weg vom überbordenden Ressourcenhunger, der so viel Leid, Unrecht und klimatische Gefahren heraufbeschwört.

Das allerdings ist ein Prozess, der lebenslange Einfühlung erfordert. Bei den Nasas beginnt er bereits im Babyalter. In Deutschland die Bescheidenheit als Kraftquelle zu entdecken, erfordert vielen Menschen zurzeit noch zu viel ab, hieß es in der intensiven Diskussion. Es gilt aber, Verantwortung für die Folgen des westlichen Konsums zu übernehmen, etwa für Raubbau und Vertreibungen im kolumbianischen Bergbau, wegen billiger Importe von Steinkohle. Alle Handelsverträge gehören auf den Prüfstand mit Blick auf ihre Effekte in sozialer und ökologischer Hinsicht. Der Versöhnung Zeit zu geben, aber trotz Rückschlägen weitere Schritte auf diesem steinigen Weg zu gehen, bleibe die Hoffnung Kolumbiens auf Frieden. Deutsch-kolumbianische Gespräche wie diese Dialogtagung bringen allen Seiten Kraft und Inspiration für das, was ansteht. Die Herausforderungen bleiben gewaltig, national wie global.

Stiftung Umwelt und Entwicklung NRW (c) SUE

Dialogtagung 2022

Sa. 7. Mai 2022
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