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Lebendige Kirche
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Gerecht oder barmherzig?

Wie sich Kirche und Caritas im Sozialstaat bewegen können und sollen, ist nicht einfach zu beantworten

Kirche und Sozialstaat Küppers Quadrat (c) Thomas Hohenschue
Kirche und Sozialstaat Küppers Quadrat
Datum:
Di. 11. Okt. 2016
Von:
Thomas Hohenschue
Das Jahr der Barmherzigkeit: Bald endet es. Und es hat so manche Diskussion beflügelt. Zum Beispiel darüber, wo sich Kirche und Caritas im Sozialstaat verorten.
Kirche und Sozialstaat Schoenen Quadrat (c) Thomas Hohenschue
Kirche und Sozialstaat Schoenen Quadrat

Mit welcher Haltung verfolgen sie ihren Einsatz für den Nächsten? Eine gar nicht so einfache Frage, wie ein Werkstattgespräch des Forums Diakonische Pastoral zeigte. Seelsorger und Sozialarbeiter traten im Aachener Haus der Caritas in inspirierten Austausch. Ein kurzer Blick auf die Themen, die sich dabei nahezu zwangsläufig entwickelten.

 

Welche Rolle spielt Liebe heute in unserer Gesellschaft? Und was bedeutet das für das Gebot der Nächstenliebe?

Früher war alles anders. Das heißt nicht, dass es besser war. Das können Sozialethiker wie Arnd Küppers aus Mönchengladbach präzise beschreiben, auch um Schlussfolgerungen für das Heute zu ziehen. Nach dieser Lesart stellt sich die Sache mit der Liebe wie folgt dar: Früher sortierte sich die deutsche Gesellschaft nach Ständen und Berufen. Jeder hatte seinen fixen Platz in der sozialen Hackordnung. Danach ordneten sich auch die Beziehungen. Paare begründeten sich häufig nicht aus romantischen Motiven, sondern um diese Ordnung zu bestätigen und fortzuschreiben.

Heute hingegen ist alles im Fluss. Die Gesellschaft splittert sich auf hoch komplizierte Weise auf, in verschiedenste Teile und Systeme. Der Beruf ist nur eines davon und wandelt sich kontinuierlich. Der Einzelne muss sich ständig anpassen, um zu bestehen. Vor diesem hohen Druck gewinnt die Liebe eine geradezu gigantische Bedeutung, sagt Küppers. Sie muss nun übernehmen, was früher die Hackordnung übernahm: eine bedingungslose Annahme, eine soziale Sicherheit, eine verlässliche Verbindung zu Partnern und Familien.

Kein Wunder, dass viele Partnerschaften heute unter dem Druck dieser Erwartungen zerbrechen – sie können nicht auffangen, was an anderer Stelle wegbricht. Inbesondere sind die Partner überfordert, wenn Unstimmigkeiten und andere Differenzen in ihr Beziehungsleben treten. Zuviel ist zuviel. Nächstenliebe steht unter einem ähnlichen Druck – Solidarität ist unter den aktuellen Bedingungen kein selbstverständliches Prinzip.

 

Was genau sind nochmal christliche Werte und ein christliches Menschenbild?

Er wisse es nach vielen Jahren Forschung immer noch nicht, sagt Küppers und fordert: Lasst uns mit dem Gerede davon aufhören. Angewidert ist er von dem Missbrauch dieser Vokabeln, etwa von Pegida und anderen Populisten. Das Christentum werde hier benutzt, um Nächstenliebe gegenüber Menschen in Not in Misskredit zu bringen. Wir haben eine viel radikalere Botschaft: die des Evangeliums. Die Barmherzigkeit spielt darin eine bedeutende Rolle.

 

Ist der barmherzige Samariter wirklich ein gutes Vorbild? Und wenn ja: wofür?

Es kommt darauf an, wie man darauf schaut. Zunächst einmal entdecken darin viele die tätige Nächstenliebe. Die Hilfe ist konkret, sie hilft einem Bedürftigen sofort. Und doch scheint vielen anderen diese Form der Barmherzigkeit zu kurz gegriffen. Die mildtätige Hilfe bezieht sich nur auf einen Einzelfall. Sie sorgt nicht dafür, dass Menschen in einer ähnlichen Situation ebenfalls geholfen wird. Und vor allem: Sie sorgt nicht dafür, dass die Situation erst gar nicht eintritt. So verstanden, ist der Samariter kein Vorbild, an dem man sich in der heutigen Zeit orientieren kann.

Das sagt auch die verbandliche Caritas. Sie bekräftigt: Es ist gut, dass im Sozialstaat nicht die Barmherzigkeit das Leitbild ist, sondern die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit zielt auf die Gleichheit ab: gleiche Not, gleiche Hilfe. Und zwar nicht aus einer persönlichen Entscheidung heraus, einem Einzelnen oder mehreren Einzelnen helfen zu wollen, sondern umgekehrt als Rechtsanspruch eines jeden Mitglieds unserer Gesellschaft. Ohne Ansehen der Person, allein wegen ihrer verbrieften Würde.

 

Ist eine Behörde, die streng nach dem Gesetz arbeitet, schon vom Grundsatz her unbarmherzig?

Jobcenter sind Teil des Sozialstaates. Und an einschlägige Gesetze gebunden. Das wirkt zuweilen herzlos und formal. Aber das geht zunächst einmal nicht anders, weil alles, was eine Behörde tut, rechtmäßig sein muss. Entscheidungen und ihre Begründungen müssen wasserdicht formuliert sein, um Bestand zu haben. Und im Ganzen ihren Sinn zu erfüllen – nämlich gleiche Hilfe für Bürger in vergleichbaren Notsituationen zu leisten.

Und doch kann auch eine Behörde die Menschlichkeit walten lassen, die sich mit dem Konzept der Barmherzigkeit verbindet. Das treibt auch einen engagierten Jobcenter-Leiter wie Jürgen Schoenen aus Eschweiler um. Er hält die Mitarbeiter an, die Erwerbslosen mit Respekt zu behandeln, in ihnen keine schwachen Hilfsbedürftigen zu sehen, sondern Kunden mit berechtigen Ansprüchen. Als Leiter hat er die Möglichkeit, Mittel so einzusetzen, dass es eine gute Begleitung dieser Kunden gibt, die auf persönliche Lebensumstände Rücksicht nimmt und passgenau Hilfen zur Selbsthilfe anbietet. Dass das nicht immer klappt und dass die Gesetzgebung humaner und großzügiger sein könnte, weiß Jürgen Schoenen auch. Aber er kann glaubhaft klarstellen: Auch in seiner Behörde ist der Blick auf den Einzelnen nicht verbaut – der Blick des barmherzigen Samariters.

 

Muss man sich zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit entscheiden?

Nein, muss man nicht. Sozialethiker Arnd Küppers plädiert dafür, seinen eigenen Standpunkt im Zwiespalt der Prinzipien zu entwickeln. Seelsorger neigen eventuell mehr der biblisch begründeten Barmherzigkeit zu, Sozialarbeiter der staatlich garantierten Gerechtigkeit. Und doch gibt es viele Grenzgänger, welche die Chancen und Risiken beider Haltungen sehen. In unserer modernen Gesellschaft, in der wir viele Rollen gleichzeitig einnehmen können und müssen, ist das eigentlich auch kein Problem. Viele leben in ihrem Ehrenamt etwas Anderes als im Beruf oder unterscheiden im Beruf, welches Prinzip wann Vorrang genießt. Und das ist gut so, denn letztlich geht es bei dem Ganzen um den sozialen Frieden. Schon Thomas von Aquin baute im 13. Jahrhundert Brücken zwischen den beiden Prinzipien: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit – Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“

Kirche und Sozialstaat Quadrat (c) Berthold Bronisz/pixelio.de
Agentur für Arbeit (c) Berthold Bronisz/pixelio.de