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Gebraucht wie selten zuvor in 40 Jahren

Pastoraler Schwerpunkt Kirche und Arbeiterschaft sucht Perspektiven

12_Kirche und Arbeiterschaft (c) Thomas Hohenschue
12_Kirche und Arbeiterschaft
Datum:
Di. 17. März 2015
Von:
Thomas Hohenschue
Was prägt das Bistum Aachen? Neben dem Einsatz für die Weltkirche, dem Dom und den Heiligtumsfahrten fallen manchem auch die vielen sozialen Vereine, Dienste und Betriebe ein, die mit Herzblut Hilfe und Begleitung anbieten für Menschen mit und ohne Erwerbsarbeit.

 1980 rief Bischof Klaus Hemmerle den pastoralen Schwerpunkt „Kirche und Arbeiterschaft“ aus – Zeit für eine Bilanz.

Der Saal der katholischen Hochschulgemeinde in Aachen platzte am vergangenen Donnerstag aus den sprichwörtlichen Nähten, als Zeitzeugen und heute Aktive eine gemeinsame Bestandsaufnahme wagten und die Perspektiven für die Zukunft suchten. Vergangenheit und Gegenwart des sozialpastoralen und sozialpolitischen Einsatzes im Bistum Aachen saßen mit am Tisch. Es sind Deutungsmuster und Worte aus verschiedenen Welten und Zeitaltern, die da nebeneinander stehen, durchaus buchstäblich. Eine nur unzureichende Übersetzung in Sprache und soziale Herausforderungen der heutigen Zeit mache dem Gesamtanliegen nicht nur intern, sondern auch und vor allem bei den Gemeinden das Leben schwer – so ein Fazit.

Romantisieren solle man das nicht, was vor 35 Jahren im Bistum geschehen sei, schrieb Rainer Krockauer, Professor der Katholischen Hochschule, den Gästen ins Stammbuch. Zwar habe sich mit Rückenwind des Würzburger Synodenbeschlusses „Kirche und Arbeiterschaft“ einiges an Initiativen entfaltet, wie in der Arbeitslosen- und Stadtteilarbeit, in Bildung und Betriebsseelsorge. Aber die „Bekehrung der Gemeinden“ zum Auftrag der Nächstenliebe für die „Kleinen und Schwachen“, wie sie gefordert wurde, sei nicht gelungen – von Einzelfällen abgesehen.


Arbeitsverdichtung in Betrieben, Niedriglöhne, Leiharbeit, Hartz IV

Muss da wirklich erst ein Papst Franziskus kommen, um Christen zu motivieren, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen? Die Nöte vieler Menschen in der Arbeitswelt sind heute größer als vor 35 Jahren, dieser Konsens verband die Aktiven bei der Tagung. Arbeitsverdichtung, Auflösung der Privatsphäre über ständige Erreichbarkeit und Mobbing sind nur ein paar Stichworte aus dem betrieblichen Alltag. Massive soziale Probleme verursacht die Deregulierung des Arbeitsmarktes mit Leiharbeit, mit geringfügiger, untertariflicher, sozial nicht abgesicherter Beschäftigung. Viele Menschen sind arm trotz Arbeit, beziehen Hartz IV, weil sie mit den weit verbreiteten Niedriglöhnen nicht auskommen. Und eine weitere, brutale Facette des deutschen Arbeitsmarktes zeigt sich in der sozial desolaten Situation von Wanderarbeitern, die sich etwa in der Pflege und bei der Ernte verdingen.

Die Kirche „der Kleinen und Schwachen“ ist also gefragt wie nie in den vier Jahrzehnten seit Synodenbeschluss. Die Wahrnehmung dieses diakonischen Zweiges von Kirche bleibt aber, so scheint es, delegiert an den Caritasverband und an einzelne weitere Verbände, Vereine und Initiativen, wenige Pfarreien.


Blick weiten, politischer werden, die Vernetzungen vertiefen

Wie es dazu kam? Bereits bei der Ausrufung des pastoralen Schwerpunktes war der Begriff „Arbeiterschaft“ überholt, die marginalisierten Industriearbeiter nur eine Teilgruppe der Frauen, Männer und Jugendlichen, die man im Blick hatte. Man müsse sich von den Ursprungspapieren und ihrer Sprache lösen, hieß es in Aachen. Das gelte nicht nur für Begriffe, sondern auch für den Pathos und die Haltung, die sich mit diesen tradierten Positionierungen vermittelten. Den „Skandal“ überwinden, dass Kirche und Arbeiterschaft voneinander entfremdet seien? „Wir haben die Arbeiterschaft nie gehabt“, hieß es nun in nüchterner Klarheit und mit der Selbsteinschätzung, dass ein Großteil der Kirche mittelschichtsgeprägt sei und selbstbezogen in einer Wagenburg lebe.

Eine Menge starker Tobak für alle, die sich teils seit Jahrzehnten in der Arbeit für die Menschen am Rand der Gesellschaft engagieren. Viele haben über den sozialpastoralen und sozialpolitischen Einsatz eine Heimat in der Kirche gefunden. Aber der Satz schwebte über der Veranstaltung, überleben könne man nur, wenn man sich der Veränderung stelle. Folgerichtig hatte die Bischöfliche Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ um ihre Sprecher Pfarrer Rolf-Peter Cremer und Renate Müller zum offenen Dialog über die Zwischenbilanz des pastoralen Schwerpunktes aufgerufen. Diese Vergewisserung schien nicht zuletzt angesichts des bevorstehenden Bischofswechsels angemessen.

„Rund läuft es auf keinen Fall“, bekannte Rolf-Peter Cremer. Durchaus mit einem Schuss Selbstkritik brachte er die Selbstbeschäftigung der Institution mit Fragen von Strukturen und Finanzen zur Sprache. Kirche sei in ihrem Handeln allzu oft nach innen gewandt. Dabei gelte es den Blick zu weiten, politischer zu werden, Vernetzungen zu vertiefen mit der verbandlichen Caritas, den Gewerkschaften und weiteren Akteuren der Zivilgesellschaft. Gute Ansätze dafür lassen sich bei Modellprojekten im Bistum beobachten, sie weisen in die Zukunft. Renate Müller legte ihr Augenmerk auf die gemeinsame Verantwortung von Bischof und Engagierten. „Es gibt unendlich viel zu tun.“ Aus der Diskussion nehme sie wichtige Anstöße zur Weiterentwicklung mit. Aber eines sei ihr klar: „Wenn wir diesen Schwerpunkt nicht hätten, müssten wir ihn gründen.“