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Es ist alles noch viel schlimmer als bekannt

Generalvikar Andreas Frick kündigt entschlossene Aufarbeitung des Missbrauchs im Bistum Aachen an

Es ist alles noch viel schlimmer als bekannt Nachricht (c) Thomas Hohenschue
Es ist alles noch viel schlimmer als bekannt Nachricht
Datum:
Mo. 15. Apr. 2019
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 16/2019 | Thomas Hohenschue
Die katholische Kirche erlebt in diesen Monaten einen neuen Tiefpunkt ihrer Beziehung zu Gesellschaft und Mitgliedern. Helfen können da nach Ansicht der meisten Beobachter nur noch Taten. Die Zeit der Worte scheint vorbei.
Es ist alles noch viel schlimmer als bekannt (c) Thomas Hohenschue
Es ist alles noch viel schlimmer als bekannt

Das Bistum Aachen schließt sich den Diözesen an, welche einschlägige Personalakten original an Staatsanwaltschaften übergeben wollen. Zurzeit prüfen Gutachter noch die Details, berichtet die zuständige Referentin im Stab des Generalvikars, Alexandra Schiffers. Sie legt Wert darauf festzuhalten, dass sie weisungsungebunden arbeitet. Ihre Aufgabe ist es, die Anstrengungen zu koordinieren, mehr Licht in das unaufgeklärte Dunkelfeld weiterer Fälle von sexuellem Missbrauch auf dem Gebiet des Bistums zu bringen.

Auch Generalvikar Andreas Frick anerkennt die dramatische Dimension der Vertrauenskrise, in der sich die Institution befindet. „Ihr Ausmaß ist aus heutiger Sicht unabsehbar“, sagte er in Düren bei einer Veranstaltung des regionalen Katholikenrats. Und er wagte die Prognose: „Diese große Krise wird mich nun den Rest meines Lebens und meiner priesterlichen Amtszeit begleiten – das werden wir nicht los.“ Umso wichtiger ist ihm die entschlossene Aufklärung geschehenen Unrechts. Greifen sollen hier die Maßnahmen, welche in der gemeinsamen Konferenz des Bischofs mit seinen Beratungsgremien auf den Weg gebracht wurden. Und der Generalvikar machte in Düren deutlich, dass die Aufklärung nicht vor großen Namen Halt machen werde. Am Ende der Untersuchungen stünde, Verantwortlichkeiten sichtbar zu machen: „von Personalverantwortlichen, von Generalvikaren, von Bischöfen der letzten Jahrzehnte“. Auf Zahlen möchte sich Andreas Frick naturgemäß beim aktuellen, noch vagen Stand der Dinge nicht festlegen. Aber eines ist für ihn schon heute klar: „Es ist noch viel schlimmer als bekannt.“

Er habe in den letzten Wochen und Monaten erschütternde Gespräche gehabt mit Menschen, die ihr oft langes Leben unter dem Trauma sexuellen Missbrauchs geführt haben. Sich dem zu stellen, ist dem Generalvikar ein pastorales Anliegen. Erlittenes Leid sichtbar zu machen, zur Sprache gebracht zu haben, habe eine hohe Bedeutung für die Betroffenen. Nicht selten sei dies der Weg, um versöhnter sterben zu können.

 

Betroffene und ihre Angehörige sollen sich zu Wort melden

Andreas Frick ruft Betroffene und ihre Angehörigen dazu auf, sich zu Wort zu melden. Beim Bistum wird gerade eine unabhängige Anlaufstelle eingerichtet, mit Hilfe einer interdisziplinären Arbeitsgruppe. Der Generalvikar wie auch Alexandra Schiffers zeigten Verständnis für jeden, der sich lieber bei einer anderen Institution oder Organisation meldet. Davon gibt es viele. Das Bistum möchte durch diese Offensive so viele Geschehnisse wie möglich aufarbeiten, so schmerzlich der Weg auch für Beteiligte sein mag. Dieser erklärten Entschlossenheit in der Aufarbeitung steht ein nicht so eindeutiges Bild gegenüber, Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Der Gedanke der Prävention umfasst nach aktuellem Stand der Diskussion zwei Punkte: die Vorbeugung individuellen Fehlverhaltens und die Vorbeugung von Strukturen, die Missbrauch begünstigen. Allgemein als glaubwürdig eingeschätzt wird das hohe Engagement der Diözese, Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen einen wirksamen Schutz zukommen zu lassen. Zehntausende Haupt- und Ehrenamtliche im Bistum durchliefen und durchlaufen Schulungen, institutionelle Schutzkonzepte loten Risikofaktoren aus und minimieren die Chancen eines Täters, in einer kirchlichen Einrichtung zu missbrauchen.

 

Noch ganz am Anfang beim Thema systemische Ursachen

Wie aber sieht es mit den sogenannten „systemischen Ursachen“ aus, die im Raum der Kirche sexuellen Missbrauch begünstigen? Die Debatte darüber läuft auf Hoch- touren. In Düren skizzierte der Münsteraner Dogmatikprofessor Michael Seewald einige Aspekte: das enorme Machtgefälle zwischen Klerikern und Laien, die unkontrollierte Konzentration von Macht in Händen weniger Männer, die Tabuisierung von Sexualität in Lehre und Sprache der Kirche, die Überhöhung von Priesterstand und Institution als heilig, rein und unantastbar. Über diese Fragen offen zu sprechen und über Anschlussthemen wie die Gleichstellung der Frauen in der Kirche, werde häufig autoritär unterbunden, analysierte Seewald. „Wir stehen hier noch ganz am Anfang des Weges“, sagte der Theologe.

Darauf angesprochen, zeigte Generalvikar Andreas Frick wenig Neigung, sich diesem Teil der Zukunftsdebatte offensiv zu stellen. Er verwies vielmehr darauf, dass es zwei Beratungsstränge gebe, in denen die miteinander verwobenen Themen „Macht“ und „Sexualität“ in der Kirche besprochen würden. Konkret bezog sich der Generalvikar auf den jüngst initiierten synodalen Weg auf Bundesebene sowie auf den Bistumsprozess „Heute bei dir“. Wie sich die künftige Gestalt von Kirche im Bistum Aachen entwickelt, ist Gegenstand der vierten Säule von „Heute bei dir“. Zurzeit ist die Beratung dazu noch nicht eröffnet, weil die Inhalte vor der Struktur stehen sollen. Generalvikar Andreas Frick appellierte, alle Anliegen in den Prozess einzubringen, denn es gehe schließlich um die Erneuerung der Kirche. Ob die kritischen Anfragen an die bisherige Art und Weise, die Institution zu prägen und zu leiten, dort auch bearbeitet werden? Die Frage wird immer wieder gestellt, aber die Antwort fällt nicht eindeutig aus. Angesichts des Kontextes, in dem die Kritik steht, geben sich damit viele überhaupt nicht zufrieden.

Es ist alles och viel schlimmer als bekannt (c) Thomas Hohenschue
Es ist alles noch viel schlimmer als bekannt (c) KiZ/imago